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Zweiter Raum

Vielleicht wanderte Grasser in seiner Gesellenzeit auch nach Nördlingen und studierte den Schnitzaltar von Nikolaus Gerhaert. Ein Stilelement des niederländischen Meisters hatte es ihm besonders angetan: der linke Fuß, im Winkel von 90 Grad vor das rechte Bein gestellt. Auch Bayern übte sich nun im „burgundischen Schreiten“.

Für die Höflinge war es vielleicht nur ein Modetrend, für neuerungsfreudige Künstler wie Erasmus Grasser war es eine Offenbarung: Aus dem rechtwinkligen Schrittstand heraus schraubt sich die moderne Skulptur um ihre eigene Achse. Körper aus Holz oder Stein scheinen plötzlich zu leben. Unter kunstvoll gefaltetem Gewand spannen sich Muskeln und Glieder.

Die neuen Abbilder von Heiligen, Fürsten oder Bürgerlichen besitzen unerhörte Präsenz. Dies entspricht dem gewandelten Zugang ihres Publikums zu weltlicher und geistiger Realität. Unabhängig vom Grad seiner Bildung schätzt es die neue Bildrhetorik. Ob zu Andacht, Repräsentation oder Unterhaltung: Das Kunstwerk soll ebenso geistig erfassbar wie emotional erfahrbar sein.

Fürsten herrschen international, Kaufleute handeln global. Und auch die Kunst greift im späten Mittelalter über die Grenzen Europas hinaus. Ob im Edlen, Weisen oder Bösen: Der Orient ist das Idealbild, das abendländischen Künstlern ein unerschöpfliches Repertoire zur Ausgestaltung religiöser und weltlicher Themen bietet.

Im 15. Jahrhundert tritt fremdländisches Volk auch auf bayerischen Altären in großer Zahl auf. Turban tragende Pharisäer verspotten den gefangenen Jesus, phantatstisch gekleidete Schergen geisseln mit sadistischer Lust. Es scheint, die fromme Schaulust verlangte ebenso nach Vorführung inbrünstigen Leids, wie spektakulärer Grausamkeit. [Abb. J. Pollack, Passionsszenen/Hochaltar St. Peter oder Franziskanerkirche, 1500/1492]

„ Pharisäer “, „Scherge“ oder „Prophet“: Sie verkörpern Wesenstypen, keine rassistischen Stereotypen. So werden auch dunkelhäutige Personen als Heilige verehrt: König Kaspar und der Märtyrer Mauritius stehen zm Beispiel für den „edlen Mohren“. [Anm. in Hintergrundtext: lat. "Maurus" heißt "Nordafrikaner“, daraus leitete sich das mittelalterliche deutsche Wort "Mohr" ab. Mauritius wurde bereits im 6. Jhd. zum Schutzpatron Burgunds] sehr großer Beliebtheit. [Abb.: Mathias Grünewald, hl. Mauritius und hl. Erasmus, Gemälde, 1518/20, AP München], Hl. König Caspar, Standfigur, vor 1489, MET New York]

Im 15. Jahrhundert blüht die Volksfrömmigkeit. Wallfahrten versprechen wundersame Heilung. Zahlungskräftige Gläubige erkaufen Ablass von ihren Sünden. Der große Bedarf an Schnitzaltären, Heiligenfiguren und Grabmälern beschert auch bayerischen Malern und Bildhauern reiche Aufträge.

Erasmus Grasser sicherte sich die interessantesten Aufträge im altbayerischen Raum. Wie kein zweiter konnte er Lindenholz in Figuren mit Charakter und Gemüt verwandeln. [Abb.: Maria und 12 Apostelfiguren des ehem. Salzburger Hochalters, um 1480: Darstellung des schwierigen Themas des Pfingstwunders] Dabei schöpfte er aus einem Repertoire an Typen, das er mit den Morisken meisterhaft entwickelt hatte. So wirkt mancher Scherge oder Prophet aus einem Altarwerk Grassers wie ein naher Verwandter der profanen Tanzfiguren. [Abb.: Kreuzaltar für die neu erbaute Wallfahrtskirche St. Maria in München-Ramersdorf, um 1482. Einige Figuren des zentralen Kreuzigungsreliefs [Pharisäer/Schergen?] zeigen in Ausdruck und Gestik deutliche Verwandtschaft mit den kurz vorher geschaffenen Moriskentänzern (vgl. Abb.: MT Ic/226, Ic/225, Ic/227)]

Chorgestühl der Münchner Frauenkirche. Bedeutender Auftrag, urspr. mind. 178 figürliche Teile. Nur ein kleiner Teil der Skulpturen von Grasser selbst, Beweis für Größe der Werkstatt Grassers. Versammlung der lebhaft disputierenden Männer aus dem Alten Testament (Prophet Zefanja ähnelt Moriskentänzer „Löwenmütze“!) [Abb.: Prophetenbüsten Chorgestühl, um 1502] [Abb. Moriskentänzer, Ic/229] [Evtl. Abb.: Apostelfiguren vom ehem. Altar d. Salzburger Doms von E. Grasser, vor 1480] [Abb.: korrespond. Moriskentänzer: Ic/223, Ic/228, Ic/229]

Erasmus Grasser beschäftigte in seiner Werkstatt keine Maler. (...) Wenn zum Beispiel bei Flügelaltären Tafelbilder gefordert waren, arbeitete er mit Münchner Malern wie Jan Pollack zusammen. [Abb.: ehem. Hochaltar St. Peter, Tafeln von Jan Pollack; Abb.: Petrusfigur von Erasmus Grasser]

Grasser war gefragt, wenn anspruchsvolle Aufgaben nach originellen Lösungen verlangten. Mit dem Wandepitaph für Dekan Dr. Ulrich Aresinger gelingt es ihm, ein geistvolles theologisches Programm in anschauliche Bilder zu übersetzen. Dabei half Grasser sein Verständnis von zeitgenössischer Druckgrafik, die er zuweilen ins Relief einfließen ließ. [Abb.: Wandepitaph in St. Peter in München, 1482] [Abb.: Evtl. Druck/Stich(?) des Meisters E.S.] [Evtl. Vertiefungsscreen: Beschreibung/Interpretation Aresinger-Epitaph]

Trotz seiner führenden Stellung - es musste nicht immer Grasser sein. Als Herzog Sigismund um 1490 die Schlosskirche Blutenburg stiftete, kamen andere Münchner Künstler zum Zug. Die zwölf Apostelfiguren eines unbekannten Meisters Und die Altarbilder von Jan Pollack zeugen von der hohen künstlerischen Dichte der Kunst Bayern-Münchens in dieser Zeit. [Abb.: Meister d.B.A./Apostelfiguren und Pollack/Gnadenstuhl] [Abb.: Foto Blutenburg, Anlage außen]

Vielleicht wanderte Erasmus Grasser in seiner Gesellenzeit auch nach Nördlingen und studierte den Schnitzaltar von Nikolaus Gerhaert. In jedem Fall übernimmt er das markanteste Stilelement des berühmten Niederländers - den linken Fuß, im Winkel von 90 Grad vor das rechte Bein gestellt: Auch Bayern übt sich im „burgundischen Schreiten“.

Für die Höflinge war es vielleicht nur ein Modetrend, für innovationsfreudige Künstler wie Grasser dagegen eine Offenbarung: Aus dem rechtwinkligen Schrittstand heraus schrauben sich die modernen Skulpturen kraftvoll um ihre eigene Achse. Körperlose Gestalten, gleich leblosen Gewandpuppen, gehören der Vergangenheit an.

Abbilder von Heiligen, Fürsten oder Tänzern agieren jetzt mit noch nie dagewesener Präsenz. Dies entspricht dem gewandelten Zugang ihres Publikums zu weltlicher und übersinnlicher Realität. Unabhängig vom Grad seiner Bildung schätzt es die zupackende Bildsprache. Ob zu Andacht, Repräsentation oder Unterhaltung: Das Kunstwerk soll ebenso geistig erfassbar wie emotional erfahrbar sein.

Die neue Wirklichkeit erfasst die Kunst in ganz Europa. Die Renaissance Italiens schult sich an der realitätsliebenden Antike. Auch mitteleuropäische Künstler bilden Personen und ihre Umwelt detailgetreu ab - und sind doch im Dilemma: spätgotische Bildwerke scheinen dem Betrachter ständig ihre Geistigkeit beweisen zu wollen.

Grassers Vorgänger und Zeitgenossen haben viel erreicht: Michel Erhart (seit 1469 tätig in Ulm) schuf Madonnen von unerreichtem Geist und Eleganz. Veit Stoß (um 1488 bis 1533, tätig in Nürnberg, Wien und Krakau) war Meister des innerlichen Dramas. Michael Pacher (um 1435 bis 1498, tätig u.a. in Salzburg) verband Malerei und Schnitzkunst auf höchstem Niveau.

Wichtigstes Vorbild für Erasmus Grasser war sicherlich der Bildhauer Nikolaus Gerhaert von Leiden (um 1430 bis 1473, tätig u.a. in Straßburg und Wien). In seiner Skulptur verbinden sich bürgerlich-flämische Wirklichkeitstreue mit der höfisch-gespreizten Eleganz Burgunds. Sein „verschränkter Stil“ inspiriert junge Künstler in ganz Europa.

Als Grasser seine Karriere beginnt, sind Gesellschaft und Kunst im Aufbruch. In Deutschland profitieren erstklassige Künstler von der Konkurrenz rivalisierender Bischöfe und Fürsten. Als dritte Kraft tritt das aufstrebende Großbürgertum hinzu. Die neuen Reichen dominieren die damaligen Zukunftsbranchen Bergbau, Fernhandel und Bankwesen. Ihre Handelsimperien sind weltumspannend.

Geld allein bedeutet nicht Glück: Hohe Investitionen in profane und sakrale Kunst sollen Status und Seelenheil der wohlhabenden Kundschaft sichern. Ob fromme Geistigkeit oder dramatisches Gefühl - In der Darstellung ist jetzt menschliche Nähe gefragt, weniger entrückte Jenseitigkeit. Heilige tragen Bürgergesichter, Grabfiguren wandeln sich zu Totenportraits.

Malerei und Schnitzkunst eroberen im 15. Jahrhundert die würdigsten Orte und lösen die Architektur als führende Kunst ab. Moderne Hallenkirchen bescheiden sich als Schrein für kostbare Bildkunst. Heerscharen von heiligen Gestalten und Fürsten bevölkern thaetralische Grabmäler oder prächtige Schnitzaltäre, deren vergoldetes Rankwerk in lichte Gewölbe emporwächst.

Über seine Ausbildung wissen wir wenig. Ging er zur Lehre nach Regensburg? Es war das nächste Kunstzentrum in seiner Heimat. An der Dombauhütte könnte er Skulptur und Baukunst erlernt haben. Ähnlich wie Leonardo da Vinci war Grasser ein Multitalent: Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Maschinenkonstrukteur.

Schon bald nach seiner Ankunft war Erasmus Grasser der führende Münchner Bildhauer. Den Auftakt bildete der repräsentative Zyklus mit Sonne, Mond, Wappen und Moriskentänzern für das Münchner Tanzhaus von 1478 bis 1480. [Zitat JR - umformulieren! „Wann immer Auftraggeber das Ausgefallene, Neue und besonders Schwierige erwarteten, baten sie Grasser um Angebot und Entwurf.”]

In einer Urkunde von 1507 wird Grasser erstmals als “paumeister” bezeichnet. Doch schon früher bewies er sich als Architekt von Rang: Seit 1487 plante er den Neubau des Benediktinerklosters von St. Gallen in Rorschach. 1490 erweiterte er die Kirche der reichen Silberbergwerksstadt Schwaz in Tirol. Bis zu seinem Tod leitete er die Sanierung der Saline Reichenhall, einer der wichtigsten Einnahmequellen der bayerischen Herzöge.

Wer war der geniale Ruhestörer? Wenig ist überliefert: geboren wohl um 1450 im Marktflecken Schmidmühlen in der Oberpfalz. Über seine Eltern wissen wir nichts. In München heiratete er um 1477 Dorothea Kaltenprunnerin aus vermögendem Haus. Möglicherweise waren der Maler Hans und ein gewisser Stephan Grasser seine Söhne.

1490 zählte er als einziger Künstler zu den 30 wohlhabensten Bürgern Münchens. Er besaß Häuser in der heutigen Residenzstraße und in der Kreuzgasse. Ab 1512 gehörte er dem Äußeren Rat an, höchstes politisches Amt für ein Mitglied einer Handwerkszunft. 1518 starb Erasmus Grasser als berühmter Künstler und wohlhabender Bürger in München.

Nicht nur Grassers Arbeiten, auch seine Preise gehörten überregional zur Spitze. So betrug das Honorar für die 16 Münchner Moriskentänzer 172 Pfund - damals der Gegenwert von 50 Kühen oder 1042 Schafen.

Münchner Kunstskandal anno 1475: Die Zunft St. Lukas für Maler, Schnitzer, Seidennäher und Glaser wendet sich mit einer Petition an den Rat der Stadt, um dem dem zugezogenen Bildhauer-Gesellen Erasmus Grasser die Aufnahme in ihren exklusiven Kreis zu verweigern - er sei „ain unfriedlicher, verworner und arcklistiger knecht“, man wolle in „gueter rue“ bleiben.

Sein Charakter war wohl umstritten, sein fachliches Können nicht: Selbst die feindseligen Münchner Zunftmeister mussten in ihrer Klage indirekt anerkennen, dass ihnen mit dem jungen Newcomer ein zumindest gleichrangiger Künstler gegenüberstand: „... Und wir doch wol lewt under uns haben, dy von pillden und massen zwvoran <<kursiv anfang>> alls vil wissen als er <<kursiv ende>> (...)“.

Und wirklich: Grassers trat in der bayerischen Metropole bemerkenswert selbstbewusst auf, begehrte er doch beim Rat nicht nur die Anerkennung als Zunftmeister, sondern auch die Befreiung von Steuer und Wachtgeld - Privileg für hervorragende und etablierte Künstler. Das Kunst-Establishment fühlte sich scheinbar von dem ehrgeizigen Talent bedroht. Wie sich zeigen sollte, zu Recht.

 

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