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Zweiter Raum

Münchner Kunstskandal anno 1475: Die Zunft St. Lukas für Maler, Schnitzer, Seidennäher und Glaser wendet sich mit einer Petition an den Rat der Stadt, um dem zugezogenen Bildhauer-Gesellen Erasmus Grasser die Aufnahme in ihren exklusiven Kreis zu verweigern - er sei „ain unfriedlicher, verworner und arcklistiger knecht“, man wolle in „gueter rue“ bleiben. Sein Charakter war wohl umstritten, sein fachliches Können nicht: Selbst die feindseligen Münchner Zunftmeister mussten in ihrer Klage indirekt anerkennen, dass ihnen mit dem jungen Talent ein zumindest gleichrangiger Künstler gegenüberstand: „... Und wir doch wol lewt under uns haben, dy von pillden und massen zwvoran alls vil wissen als er (...)“. Und wirklich: Grasser trat in der bayerischen Metropole bemerkenswert selbstbewusst auf. Er begehrte beim Rat nicht nur die Anerkennung als Zunftmeister, sondern auch die Befreiung von Steuer und Wachtgeld - ein Privileg für hervorragende Künstler. Das Zunft-Establishment sorgte sich um seine führende Stellung - wie sich zeigen sollte, zu Recht.

Hauptdarsteller der Innsbrucker Inszenierung ist König Maximilian, und dies gleich in doppelter Gestalt. Die Morisken, die zu beiden Seiten der königlichen Loge tanzen, sind wirkliche Randfiguren. Ihnen gehört auch der Spielmann an, der mit Trommel und Pfeife umherspringt - mit prägnantem Kopf und wilden Locken entspricht er dem damaligen Bild des „Mohren“. [prüfen: im Original dunkle Hautfarbe?]

Dem König näher steht das übrige Personal, das in München gänzlich fehlt: der Narr, das Publikum und die Preisrichterin. Der Narr gehört der Hofgesellschaft an, er sitzt zur Rechten des Kaisers. [prüfen: evtl. ein zweiter Narr auf einem der Tänzer-Reliefs?]. Seine Grimasse und Handgesten scheinen das Treiben der Tänzer zu kommentieren.

Ein Höfling - vielleicht auch ein Kaufmann, folgt dem Spektakel zur Linken des Kaisers. Es sieht so aus, als nutze er die Gelegenheit, um dem König ein wichtiges Anliegen zu unterbreiten. Als Preisrichterin tritt Bianca Maria Sforza auf, Maximilians zweite Gemahlin. In ihrer rechten Hand hält sie einen goldenen Apfel für den Sieger bereit. [Anm.: angeblich hat Maximilian Bianca nicht geliebt, er trauerte seiner 1482 gestorbenen ersten Frau Maria von Burgund nach. Deshalb Bianca in der nicht eben schmeichelhaften Rolle der „Frau Welt“?]

Die Mächtigen umgaben sich gerne mit Tänzern und anderen Künstlern. Im Münchner Tanzhaus hinter verschlossenen Türen, andernorts in aller Öffentlichkeit. In seiner Lieblingsstadt Innsbruck scheute sich der spätere Kaiser Maximilian I. nicht, die Hofloge seiner Stadtresidenz mit einem Moriskentanz zu schmücken - mit ihm selbst und seinen beiden Gemahlinnen als Mittelpunkt. [Abb.: Fotos vom Goldenen Dachl]

Von seinem Prachtbalkon aus konnte Maximilian Turniere und Schauspiele beiwohnen, die auf dem Platz vor seinem Balkon aufgeführt wurden. Und auch in Abwesenheit zeigte sich der Monarch stets der Innsbrucker Bürgerschaft - portraitecht in Sandstein gemeißelt, inmitten seiner Moriskentänzer. Ähnlich seinem zwanzig Jahre älteren Pendant in München , ist auch der Innsbrucker Moriskentanz mit einem repräsentativen Wappenzyklus unterlegt.

Die Reliefs am Goldenen Dachl wurden früher Erasmus Grasser zugeschrieben, wurden aber wohl um das Jahr 1500 vom Innsbrucker Meister Nikolaus Türing d.Ä. geschaffen. [Sechs?!] Bildfelder zeigen jeweils ein Tänzerpaar, zwei das höfische Publikum. Die Innsbrucker Tänzer unterscheiden sich stark von ihren Münchner Kollegen. Ob würdelos oder würdevoll, dort erscheinen neuzeitliche Typen. Die Tiroler Morisken wirken dagegen wie mittelalterliche Zerrbilder - mit wilden Grimassen, deformierten Gliedern und übertriebenen Verrenkungen.

In der Welt des Spätmittelalter gerät alles in Bewegung. An Uhren und anderen Automaten drehen sich Figuren im Kreis oder führen ganze Szenen auf. [Anmerkung bzw. Abb.???: München, Frauenkirche (Chorumgang), Uhr mit beweglichen Figuren (Fürbittenszene), um 1500; Straßburger Münster, sog. “Brüllautomaten” aus dem 14. Jhd.: Unterhalb der Orgel stehen zwei Wandkonsolfiguren, die bei der Messe die Zelebranten riefen.] Die Münchner Moriskentänzer sind zwar fest auf ihre Podeste gebannt. Doch scheint es, als erwachten sie jederzeit zum Leben und setzten ihren Tanz fort.

Ob in weltlicher oder sakraler Kunst: Figuren der Kleinplastik schienen eine Art Narrenfreiheit zu genießen. Aus Bronze geformte Narren bevölkerten Kronleuchter, geschnitzte Moriskentänzer zierten Kirchenbänke. Für das Chorgestühl der Cappenberger Klosterkirche standen wahrscheinlich die Morisken aus dem Münchner Tanzhaus Modell. [Abb.: Chorgestühl der ehemaligen Klosterkirche Cappenberg, 1509-22]

An der Wende zur Neuzeit entfaltete sich die Kunst auch nördlich der Alpen in neuer Weise. Wie zuvor erfüllte sie wichtige politische, geistliche und gesellschaftliche Aufgaben. Doch jenseits solcher Zweckerfüllung begannen Kunstwerke, ein ästhetisches Eigenleben zu führen. Kenner und Sammler aus allen Ständen begeisterten sich für Qualität, Virtuosität und Originalität.

Erasmus Grasser beschäftigte in seiner Werkstatt keine Maler. Wenn zum Beispiel bei Flügelaltären Tafelbilder gefordert waren, arbeitete er mit Münchner Meistern wie dem gleichaltrigen Jan Pollack zusammen. Ob bei solchen Großaufträgen der Bildhauer oder der Maler die künstlerische Leitung hatte, ist nicht bekannt. [Abb.: ehem. Hochaltar St. Peter, Tafeln von Jan Pollack; Abb.: Petrusfigur von Erasmus Grasser]

Grasser war gefragt, wenn anspruchsvolle Aufgaben nach originellen Lösungen verlangten. Mit dem Wandepitaph für den Münchner Dekan Dr. Ulrich Aresinger gelingt es ihm, ein geistvolles theologisches Programm in anschauliche Bilder zu formen. Dabei half Grasser sein Verständnis von zeitgenössischer Druckgrafik, die er zuweilen in Bildhauerkunst übersetzte. [Abb.: Wandepitaph in St. Peter in München, 1482] [Abb.: Evtl. Druck/Stich(?) des Meisters E.S.] [Evtl. Vertiefungsscreen: Beschreibung/Interpretation Aresinger-Epitaph]

Trotz seiner führenden Stellung in Altbayern - nicht immer musste es Grasser sein. Als Herzog Sigismund um 1490 die Schlosskirche Blutenburg stiftete, kamen andere Münchner Künstler zum Zug. Die zwölf Apostelfiguren eines unbekannten Meisters und die Altarbilder von Jan Pollack zeugen vom hohen Niveau der Kunstszene in Bayern-München um diese Zeit. [Abb.: Meister d.B.A./Apostelfiguren und Pollack/Gnadenstuhl] [Abb.: Foto Blutenburg, Anlage außen]

Münchner Kunstskandal anno 1475: Die Zunft St. Lukas für Maler, Schnitzer, Seidennäher und Glaser wendet sich mit einer Petition an den Rat der Stadt, um dem zugezogenen Bildhauer-Gesellen Erasmus Grasser die Aufnahme in ihren exklusiven Kreis zu verweigern - er sei „ain unfriedlicher, verworner und arcklistiger knecht“, man wolle in „gueter rue“ bleiben.

Sein Charakter war wohl umstritten, sein fachliches Können nicht: Selbst die feindseligen Münchner Zunftmeister mussten in ihrer Klage indirekt anerkennen, dass ihnen mit dem jungen Talent ein zumindest gleichrangiger Künstler gegenüberstand: „... Und wir doch wol lewt under uns haben, dy von pillden und massen zwvoran alls vil wissen als er (...)“.

Und wirklich: Grasser trat in der bayerischen Metropole bemerkenswert selbstbewusst auf. Er begehrte beim Rat nicht nur die Anerkennung als Zunftmeister, sondern auch die Befreiung von Steuer und Wachtgeld - ein Privileg für hervorragende Künstler. Das Zunft-Establishment sorgte sich um seine führende Stellung - wie sich zeigen sollte, zu Recht.

Wer war der geniale Ruhestörer? Wenig ist überliefert: geboren wohl um 1450 im Marktflecken Schmidmühlen in der Oberpfalz, gestorben 1518 in München. Über seine Eltern wissen wir nichts. Um das Jahr 1477 heiratete Erasmus Grasser Dorothea Kaltenprunnerin aus vermögendem Haus. Möglicherweise waren der Maler Hans und ein gewisser Stephan Grasser seine Söhne.

Der Widerstand der Münchner Zunftkollegen war vergeblich: 1477 erhielt Erasmus Grasser den Meistertitel. Mehrfach wurde er als Zunftvorsteher gewählt. 1490 zählte er als einziger Künstler zu den 30 wohlhabensten Bürgern Münchens. Ab 1512 gehörte er dem Äußeren Rat an. Es war das höchste politische Amt, das ein Mitglied einer Handwerkszunft erreichen konnte.

Nicht nur Grassers Arbeiten, auch seine Preise waren überregionale Spitzenklasse. So betrug das Honorar für die 16 Münchner Moriskentänzer 172 Pfund - dies entsprach damals der Gegenwert von 50 Kühen oder 1042 Schafen.

Über seine Ausbildung wissen wir wenig. Ging er zur Lehre nach Regensburg? An der Dombauhütte könnte er neben Skulptur auch Baukunst und Mechanik erlernt haben. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Leonardo da Vinci war Erasmus Grasser ein Multitalent: Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Maschinenkonstrukteur in einer Person.

Um 1473 war seine Wanderzeit beendet. Nur zwei Jahre später erhielt er den prestigeträchtigsten Auftrag, den die Stadt München zu vergeben hatte: das Bildprogramm für das Münchner Tanzhaus (1478 bis 1480). Er löste die anspruchsvolle Aufgabe souverän. Stadt, Klerus und Adel schätzten ihn seither als Spezialist für das Neuartige, Schwierige und Ausgefallene.

In einer Urkunde von 1507 wird Grasser erstmals als “paumeister” bezeichnet. Doch schon früher bewies er sich als Architekt von Rang: Seit 1487 plante er den Neubau des Benediktinerklosters von St. Gallen in Rorschach. 1490 erweiterte er die Kirche der reichen Silberbergwerksstadt Schwaz in Tirol. Bis zu seinem Tod leitete er die Sanierung der Saline Reichenhall, einer der wichtigsten Einnahmequellen der bayerischen Herzöge.

Als Grasser seine Karriere beginnt, sind Gesellschaft und Kunst im Aufbruch. In Deutschland profitieren Künstler von der Konkurrenz rivalisierender Bischöfe und Fürsten. Als dritte Kraft tritt das aufstrebende Großbürgertum hinzu. Die neuen Reichen dominieren die damaligen Zukunftsbranchen Bergbau, Fernhandel und Bankwesen. Ihre Handelsimperien sind weltumspannend.

Geld allein bedeutet nicht Glück: Hohe Investitionen in profane und sakrale Kunst sollen Status und Seelenheil der wohlhabenden Kundschaft sichern. Ob fromme Geistigkeit oder dramatisches Gefühl - in der Darstellung ist jetzt menschliche Nähe gefragt, weniger entrückte Jenseitigkeit. Heilige tragen Bürgergesichter, Grabfiguren wandeln sich zu Totenportraits.

Malerei und Schnitzkunst eroberen im 15. Jahrhundert die würdigsten Orte und lösen die Architektur als führende Kunst ab. Moderne Hallenkirchen bilden den Schrein für die kostbare Bildkunst. Heerscharen von heiligen Gestalten und Herrschern bevölkern Grabmäler oder prächtige Schnitzaltäre, deren vergoldetes Rankwerk in lichte Gewölbe emporwächst.

Die neue Wirklichkeit erfasst die Kunst in ganz Europa. Die Renaissance Italiens schult sich an der realitätsliebenden Antike. Auch mitteleuropäische Künstler bilden Personen und ihre Umwelt detailgetreu ab - und sind doch im Dilemma: spätgotische Bildwerke scheinen dem Betrachter ständig ihre Geistigkeit beweisen zu wollen.

Grassers Vorgänger und Zeitgenossen haben viel erreicht: Michel Erhart (seit 1469 tätig in Ulm) schuf Madonnen von unerreichtem Geist und Eleganz. Veit Stoß (um 1488 bis 1533, tätig in Nürnberg, Wien und Krakau) war Meister des innerlichen Dramas. Michael Pacher (um 1435 bis 1498, tätig u.a. in Salzburg) verband Malerei und Schnitzkunst auf höchstem Niveau.

Wichtigstes Vorbild für Erasmus Grasser war sicherlich der niederländische Bildhauer Nikolaus Gerhaert von Leiden (um 1430 bis 1473, tätig u.a. in Straßburg und Wien). In seiner Skulptur verbinden sich bürgerlich-flämische Wirklichkeitstreue mit der höfisch-gespreizten Eleganz Burgunds. Sein „verschränkter Stil“ inspirierte junge Künstler in ganz Europa.

 

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