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Zweiter Raum

Die Mächtigen umgaben sich immer schon gern mit Kreativen. Im Münchner Tanzhaus hinter verschlossenen Türen, andernorts in aller Öffentlichkeit. König Maximilian I. besuchte oft und gerne Innsbruck. Am Balkon seiner Stadtresidenz zeigte er den Bürgern einen steinernen Moriskentanz. [Abb.: Fotos vom Goldenen Dachl] Vom gebührender Höhe aus wohnte der spätere Kaiser Turnieren und Schauspielen auf dem Stadtplatz bei. Und auch in Abwesenheit war der Monarch stets präsent: gleich doppelt und portraitecht in Sandstein gemeißelt, inmitten seiner Moriskentänzer. Der König, seine Gemahlinnen, Höflinge und acht Tanzpaare mit Narr und Pfeifer - am Goldenen Dachl versammelt sich die komplette Moriskentanz-Gesellschaft. Es ist ein wildes Spektakel: In verrenkter Ekstase grimassieren und toben die Tänzer um den König umher. [Bildunterschrift: Früher Erasmus Grasser zugeschrieben, wurden die Reliefs wohl um 1500 vom Innsbrucker Meister Nikolaus Türing d.Ä. geschaffen.]

In der Welt des Spätmittelalter gerät alles in Bewegung. An Uhren und anderen Automaten drehen sich Figuren im Kreis oder führen ganze Szenen auf. [Anmerkung bzw. Abb.???: München, Frauenkirche (Chorumgang), Uhr mit beweglichen Figuren (Fürbittenszene), um 1500; Straßburger Münster, sog. “Brüllautomaten” aus dem 14. Jhd.: Unterhalb der Orgel stehen zwei Wandkonsolfiguren, die bei der Messe die Zelebranten riefen.] Die Münchner Moriskentänzer sind zwar fest auf ihre Podeste gebannt. Doch scheint es, als erwachten sie jederzeit zum Leben und setzten ihren Tanz fort. Ob weltliche oder sakrale Kunst: Figuren der Kleinplastik genossen größten Freiraum. Aus Bronze geformte Narren bevölkerten fürstliche Kronleuchter, geschnitzte Moriskentänzer zierten frommes Kirchengestühl. Beispiel Chorgestühl der Klosterkirche Cappenberg: Für die westfälischen Morisken standen vielleicht die Münchner Kollegen Modell. [Abb.: Chorgestühl der ehemaligen Klosterkirche Cappenberg, 1509-22] An der Wende zur Neuzeit entfaltete sich die Kunst nach eigenen Regeln. Wie zuvor erfüllte sie wichtige politische, geistliche und gesellschaftliche Aufgaben. Doch jenseits solchen Zwecks durften Kunstwerke jetzt bloß gefallen. Kenner und Sammler aus allen Ständen begeisterten sich für Qualität, Virtuosität und Originalität.

Erasmus Grasser beschäftigte in seiner Werkstatt keine Maler. Wenn bei Flügelaltären Tafelbilder gefordert waren, koppelte er sich mit Münchner Meistern wie Jan Polack. Ob bei solchen Arbeitsgemeinschaften der Bildhauer oder der Maler die künstlerische Leitung hatte, ist nicht bekannt. [Abb.: ehem. Hochaltar St. Peter, Tafeln von Jan Polack; Abb.: Petrusfigur von Erasmus Grasser] Grasser war gefragt, wenn anspruchsvolle Aufgaben nach originellen Lösungen verlangten. Mit dem Wandepitaph für den Münchner Dekan Dr. Ulrich Aresinger gelang es ihm, ein geistvolles theologisches Programm in anschauliche Bilder zu formen. Dabei half Grasser sein Verständnis von zeitgenössischer Druckgrafik, die er zuweilen in Bildhauerkunst übersetzte. [Abb.: Wandepitaph in St. Peter in München, 1482] [Abb.: Evtl. Druck/Stich(?) des Meisters E.S.] [Evtl. Vertiefungsscreen: Beschreibung/Interpretation Aresinger-Epitaph] Trotz seiner führenden Stellung in Altbayern - nicht immer musste es Grasser sein. Als Herzog Sigismund um 1490 die Schlosskirche Blutenburg stiftete, kamen andere Münchner Künstler zum Zug. Zwölf Apostelfiguren eines unbekannten Meisters und Altarbilder von Jan Polack zeugen vom hohen Niveau der Kunstszene in Bayern und besonders in München in dieser Zeit. [Abb.: Meister d.B.A./Apostelfiguren und Pollack/Gnadenstuhl] [Abb.: Foto Blutenburg, Anlage außen]

Im 15. Jahrhundert blüht die Volksfrömmigkeit. Wallfahrten versprechen wundersame Heilung. Zahlungskräftige Gläubige erkaufen Ablass von ihren Sünden. Der große Bedarf an Schnitzaltären, Heiligenfiguren und Grabmälern beschert auch bayerischen Malern und Bildhauern reiche Aufträge. Erasmus Grasser sicherte sich die interessantesten Aufträge im altbayerischen Raum. Wie kein zweiter konnte er Lindenholz in Figuren mit Charakter, Gemüt und Temperament verwandeln. [Abb.: Maria und 12 Apostelfiguren des ehem. Salzburger Hochalters, um 1480: Darstellung des schwierigen Themas des Pfingstwunders] Dabei schöpfte er aus einem Repertoire an Typen, das er mit den Morisken meisterhaft entwickelt hatte. So wirkt mancher Scherge oder Prophet aus einem Altarwerk Grassers wie ein naher Verwandter der profanen Tanzfiguren. [Abb./Anm.: Kreuzaltar für die neu erbaute Wallfahrtskirche St. Maria in München-Ramersdorf, um 1482. Einige Figuren des zentralen Kreuzigungsreliefs (Pharisäer/Schergen?) zeigen in Ausdruck und Gestik deutliche Verwandtschaft mit den kurz vorher geschaffenen Moriskentänzern (vgl. Abb.: MT Ic/226, Ic/225, Ic/227)] Künstlerische Ökonomie zahlte sich auch damals aus: Beim Großauftrag für das Chorgestühl der Münchner Frauenkirche (um 1502) bewies Grassers Werkstatt einmal mehr seine Leistungskraft. Nur wenige der zahlreichen Evangelisten, Propheten und Kirchenfürsten schnitzte der Meister selbst. Und wieder standen Moriskentänzer der heiligen Schar Modell. [Anm.: Prophet Zefanja ähnelt Moriskentänzer „Löwenmütze“] [Abb.: Prophetenbüsten Chorgestühl, um 1502] [Abb. Moriskentänzer, Ic/229] [Evtl. Abb.: Apostelfiguren vom ehem. Altar d. Salzburger Doms von E. Grasser, vor 1480] [Abb.: korrespond. Moriskentänzer: Ic/223, Ic/228, Ic/229]

Fürsten herrschen international, Kaufleute handeln global. Und auch die Kunst greift im späten Mittelalter über die Grenzen Europas hinaus. Ob im Edlen, Weisen oder Bösen: Der Orient ist das Ideal, das abendländischen Künstlern ein reiches Repertoire zur Bebilderung religiöser und weltlicher Themen bietet. Im 15. Jahrhundert tritt fremdländisches Volk auch auf bayerischen Altären auf. Turban tragende Pharisäer verspotten den dornengekrönten Jesus, phantastisch gekleidete Schergen geisseln mit sadistischer Lust. Es scheint, das fromme Publikum verlangte nach Spektakel - ebenso in Leid wie Grausamkeit. [Abb. J. Pollack, Passionsszenen/Hochaltar St. Peter oder Franziskanerkirche, 1500/1492] Fremdenfeindlichkeit in der Kunst? Nicht völlig auszuschließen. Doch „Pharisäer“, „Scherge“ oder „Prophet“ verkörperten damals allgemeine Wesenstypen, keine Stereotypen im modernen Sinn. Heilige konnten auch dunkelhäutig sein: König Kaspar und Märtyrer Mauritius standen für den „edlen Mohren“. [Anm. in Hintergrundtext: lat. "Maurus" heißt "Nordafrikaner“, daraus leitete sich das mittelalterliche deutsche Wort "Mohr" ab. Mauritius wurde bereits im 6. Jhd. zum Schutzpatron Burgunds] [Abb.: Mathias Grünewald, hl. Mauritius und hl. Erasmus, Gemälde, 1518/20, AP München], Hl. König Caspar, Standfigur, vor 1489, MET New York]

Vielleicht wanderte Grasser in seiner Gesellenzeit auch nach Nördlingen und studierte den Schnitzaltar von Nikolaus Gerhaert. Ein Stilelement des Meisters des „verschränkten Stils“ hatte es ihm offenbar besonders angetan: der linke Fuß, im Winkel von 90 Grad vor das rechte Bein gestellt. Auch Bayern übte sich nun im „burgundischen Schreiten“. [Abb.: Nikolaus Gerhaert von Leiden, Kreuzigungsgruppe bzw. Figur des hl. Johannes Ev. vom Hochaltar der Nördlinger Kirche St. Georg, um 1462] Der burgundische Hof war im 15. Jahrhundert tonangebend in Etikette und Mode. Für Höflinge war der modisch gespreizte Schritt vielleicht nur ein Trend. Neuerungsfreudigen Künstler wie Erasmus Grasser bot die körperliche Verschränkung ungeahnte Möglichkeiten: Aus dem rechtwinkligen Schrittstand heraus schraubt sich die moderne Skulptur um ihre eigene Achse. Körper aus Holz oder Stein scheinen jetzt plötzlich zu leben. Unter Gewandfalten spannen sich Muskeln und Glieder. Die neuen Abbilder von Heiligen, Fürsten oder Bürgerlichen besitzen unerhörte Präsenz. Dies entspricht dem gewandelten Zugang ihres Publikums zu weltlicher und geistiger Realität. Unabhängig vom Grad seiner Bildung schätzte es die neue Bildrhetorik. Ob zu Andacht, Repräsentation oder Unterhaltung: Das Kunstwerk sollte ebenso geistig erfassbar wie emotional erfahrbar sein.

Die neue Wirklichkeit erfasst die Kunst in ganz Europa. Die Renaissance Italiens schult sich an der realitätsliebenden Antike. Auch mitteleuropäische Künstler bilden Personen und ihre Umwelt detailgetreu ab - und doch scheinen spätgotische Bildwerke stets bemüht, ihre Geistigkeit zu beweisen. Grassers Vorgänger und Zeitgenossen hatten viel erreicht: Michel Erhart (seit 1469 tätig in Ulm, seit 1494 in Augsburg) schuf Madonnen von höchstem Geist und Eleganz. Veit Stoß (um 1488 bis 1533, tätig in Nürnberg, Wien und Krakau) war Meister des innerlichen Dramas. Michael Pacher (um 1435 bis 1498, tätig u.a. in Salzburg) verband Malerei und Schnitzkunst auf höchstem Niveau. [Abb.: Erhart/Stoß/Pacher?] Wichtigstes Vorbild für Erasmus Grasser war wohl der niederländische Bildhauer Nikolaus Gerhaert von Leiden (um 1430 bis 1473, tätig u.a. in Straßburg und Wien). In seiner Skulptur verbinden sich bürgerlich-flämische Wirklichkeitstreue mit der höfisch-gespreizten Eleganz Burgunds. Sein kunstvoll „verschränkter Stil“ inspirierte junge Künstler in ganz Europa. [Abb.: Nikolaus Gerhaert von Leiden, Selbstbildnis, Sandsteinbüste, Straßburg, Musee de l’Oeuvre Notre Dame, 1467]

Als Grasser seine Karriere beginnt, sind Gesellschaft und Kunst im Aufbruch. In Deutschland profitieren Künstler von der Konkurrenz rivalisierender Bischöfe und Fürsten. Als dritte Kraft tritt das aufstrebende Großbürgertum hinzu. Die neuen Reichen dominieren die damaligen Zukunftsbranchen Bergbau, Fernhandel und Bankwesen. Ihre Handelsimperien sind weltumspannend. Geld allein bedeutet nicht Glück: Hohe Investitionen in profane und sakrale Kunst sollen Status und Seelenheil der wohlhabenden Kundschaft sichern. Ob fromme Geistigkeit oder dramatisches Gefühl - in der Darstellung ist jetzt menschliche Nähe gefragt, weniger entrückte Jenseitigkeit. Heilige tragen Bürgergesichter, Grabskulpturen sind realistische Totenportraits. Malerei und Schnitzkunst eroberen im 15. Jahrhundert die würdigsten Orte und lösen die Architektur als Leitkunst ab. Moderne Hallenkirchen bilden den Schrein für kostbare Bildkunst. Heerscharen von heiligen Gestalten und Herrschern bevölkern Grabmäler und Schnitzaltäre, deren üppiges Rankwerk in lichte Gewölbe emporrankt.

Über seine Ausbildung wissen wir wenig. Ging er zur Lehre nach Regensburg? An der Dombauhütte könnte er neben Skulptur auch Baukunst und Mechanik erlernt haben. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Leonardo da Vinci war Erasmus Grasser ein Multitalent: Bildhauer, Architekt, Ingenieur und Maschinenkonstrukteur in einer Person. Um 1473 war seine Wanderzeit beendet. Nur zwei Jahre später erhielt er den prestigeträchtigsten Auftrag, den die Stadt München zu vergeben hatte: das Bildprogramm für das Münchner Tanzhaus (1478 bis 1480) [Link zu ST 3.11 Der Rat tanzt]. Er löste die anspruchsvolle Aufgabe souverän. Stadt, Klerus und Adel schätzten ihn seither als Spezialist für das Neuartige, Schwierige und Ausgefallene. In einer Urkunde von 1507 wird Grasser erstmals als “paumeister” bezeichnet. Schon früher bewies er sich als Architekt von Rang: Seit 1487 plante er den Neubau des Benediktinerklosters von St. Gallen in Rorschach. 1490 erweiterte er die Kirche der reichen Silberbergwerksstadt Schwaz in Tirol. Bis zu seinem Tod leitete er die Sanierung der Saline Reichenhall, eine der wichtigsten Einnahmequellen der bayerischen Herzöge.

Wer war der geniale Ruhestörer? Wenig ist überliefert: geboren wohl um 1450 im Marktflecken Schmidmühlen in der Oberpfalz, gestorben 1518 in München. Über seine Eltern wissen wir nichts. Um das Jahr 1477 heiratete er Dorothea Kaltenprunnerin aus vermögendem Haus. Möglicherweise waren der Maler Hans und ein gewisser Stephan Grasser seine Söhne. Der Widerstand der Münchner Zunftkollegen war vergeblich: 1477 erhielt Erasmus Grasser den Meistertitel. Mehrfach wurde er als Zunftvorsteher gewählt. 1490 zählte er als einziger Künstler zu den 30 wohlhabendsten Bürgern Münchens. Ab 1512 gehörte er dem Äußeren Rat an. Es war das höchste politische Amt, das ein Mitglied einer Handwerkszunft erreichen konnte. Nicht nur Grassers Arbeiten, auch seine Preise waren überregionale Spitze. So betrug das Honorar für die 16 Münchner Moriskentänzer 150 Pfund - dies entsprach damals dem Gegenwert von 50 Kühen oder 1042 Schafen.

 

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