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Vierter Raum

München hat viele Wahrzeichen. Zwei davon verdankt die Stadt dem Bildhauer Erasmus Grasser. Er schuf vor über 520 Jahren das Stadtwappen mit dem „Münchner Kindl“ [Link zu ST 3.22 Mond, Mönch, Raute] und die zehn Moriskentänzer. Bodenständigkeit und Weltoffenheit, gepflegte Lebensfreude und humorvolle Widerspenstigkeit - mit ihrem Tanz aus längst vergangener Zeit scheinen sie all dies in zeitloser Vollendung auszudrücken. Nie waren die Morisken so wertvoll wie heute. Eine ganze Industrie lebt vom fortdauernden Boom um die liebenswerten Holztänzer. Schnitzer bilden sie nach oder erfinden einfach neue hinzu. Egal: Künstler, Bürger und Touristen - sie alle wollen „ihre“ Morisken. Die Stadt weiß, was sie an ihren berühmten Söhnen hat: Seit 1992 erhalten um Ausbildung verdiente Handwerksbetriebe den „Erasmus-Grasser-Preis“. Verdiente Bürger und Delegationen aus aller Welt erhalten moriskische Ehrengeschenke. Wann immer die Weltstadt ihr Herz zeigt - häufig tanzen dazu die Morisken.

Die tanzenden Überlebenskünstler überstanden das Inferno des Bombenkriegs unbeschadet. Lange mussten die Münchner ihre liebsten Stücke alt-Münchner Kunst entbehren, doch 1955 hieß es im [notdürftig wiederhergestellten?] Münchner Stadtmuseum endlich: „Jetzt tanzen die gotischen Manndln wieder.“ Langsam erhielt die Stadt wichtige Teile ihrer baulichen Gestalt zurück. 1957 war der letzte Dachstein auf den nach altem Vorbild wieder hergestellten Saalbau des alten Rathaus gesetzt. Moriskenkopien ersetzten die Originale - denn die waren schon wieder aktiv, im Dienste ihrer Heimatstadt. Ob in Ausstellungen, Stadtjubiläen oder gesellschaftlichen Events: Die ebenso kunst- wie humorvollen Tanzfiguren waren ideale Aushängeschilde des alten wie des neuen Münchens. 1968 startete ihre internationale Karriere: Als Olympia-Botschafter warb der „Zauberer“ (Figur mit der Löwenmütze) [Link zu ST 1.9 „Löwenmütze“] in Mexiko gemeinsam mit anderen kostbaren Münchner Kunstwerken für Olympia 1974 in der bayerischen Kultur-Weltstadt.

Die populären Tänzer zog es heraus aus dem exklusiven Ratssaal - und hinein in die städtische Gesellschaft. 1928 erhielten die Morisken ein neues Farbenkleid. 1931 bezogen sie ihr neues Domizil im Münchner Stadtmuseum am St.-Jakobs-Platz. Vom großen Theater zur Volksbühne. Hier tanzen sie seither - losgelöst aus ihren Nischen, doch fern den Wappen und Gestirnen, die einst ihr Spiel erklärten. Kaum angekommen, waren sie Besucherlieblinge. Auf säulengleichen Podesten tanzend, präsentierten sie sich völlig frei vor ihrem Publikum. Die Volksnähe hatte ihren Preis: Im Kreis gestellt, einander abgewandt, tanzte jeder nun für sich allein. [Foto: Aufstellung ab 1931, UK 87] Die heimlichen Museumsstars gaben bald glanzvolle Gastspiele. Zu seinem 50jährigen Bestehen zeigte das Stadtmuseum 1938 seine Moriskentänzer mit weiterem „Münchner Kulturgut aus fünf Jahrhunderten“ in einer großen Jubiläumsschau. Welche Werke auch sonst gezeigt wurden, immer zogen die zehn Tänzer die meisten Blicke auf sich.

Als der totale Krieg immer größere Opfer forderte, bemühte sich das Regime mit aller Kraft um Stärkung der Moral in der Heimat und an der Front. 1942 beauftragte die Stadt München den oberösterreichischen Heimatschriftsteller Richard Billinger, ein festliches Weihespiel um das Schicksal Erasmus Grassers zu verfassen. Der Völkische Beobachter fand Gefallen an dem Stück des „echtblütigen“ Dichters, das so recht aus völkischem „Wurzelholz“ geschnitzt war: Im pestgeplagten mittelalterlichen München trotzt der wackere Bildhauer dem Tod, der verknöcherten Zunftgesellschaft und unmoralischen Versuchungen. Die Moriskentänzer, von der Lokalpresse zu „Rauschgestalten der Lust“ erhoben, werden zum guten Ende aus der Stadt gewiesen. 1943 wurden die Morisken als Teil der „Kunstbrief-Reihe“ den Soldaten im Feld geschickt. Warum gerade diese Gestalten, denen doch alles soldatische fern ist? Es war ihre „närrische Schalkhaftigkeit“ - und besonders ihre unwiderstehliche Lebenslust, die sie besonders qualifizierte, den Durchhaltewillen der kämpfenden Truppe zu stützen.

Die Moriskentänzer wurden vom NS-Regime gern zum Dienst verpflichtet, wenn es galt, Kulturverbundenheit und Gemütlichkeit zu zelebrieren. Auf dem Faschingsball der Stadt München im Februar 1934 versuchte sich eine Tanzgruppe des bayerischen Staatsballetts an einem Moriskentanz - frei nach historischen Vorbildern und zu Gunsten des NS-Winterhilfswerkes. Am 15.10.1938 wurde mit großem Gepränge der Grundstein für das Münchner „Haus der Deutschen Kunst“ gelegt. Und wieder standen die Publikumslieblinge im Zentrum des Geschehens. Auf dem großem Festumzug zierten vier Kopien der „weltberühmten Maruska-Tänzer“ als Wahrzeichen alt-Münchner Kunst den Schauwagen der deutschen Gotik. 1939 erlangten die Morisken allerhöchste nationalsozialistische Weihen. Dachauer KZ-Häftlinge mussten in der SS-Manufaktur Allach feinste Porzellanrepliken anfertigen - Ehrengeschenke an Honoratioren, Künstler und Parteibonzen, alljährlich überreicht am „Tag der deutschen Kunst“. NS-Größen wie Goebbels, Göring und Ritter von Epp schrieben begeisterte Dankesbriefe und forderten Nachschub an.

Der NS-Staat verlangte eine neue Kunst. Doch bei aller Begeisterung für monumental-germanisches Heldentum - Führer und Volk gönnten sich auch weiterhin gern Gutes aus der alten Zeit. Nicht nur in der „Hauptstadt der Bewegung“ erfreuten sich dabei die Moriskentänzer besonders großer Beliebtheit. Obwohl oder vielleicht gerade weil die spätgotischen Skulpturen nicht das gängige Klischee von rassischer Vollkommenheit und heldischer Wehrhaftigkeit bedienten, setzte die NS-Propaganda die Morisken schon früh für ihre Zwecke ein. Karrierefördernd war für sie einmal mehr ihre „närrische Schalkhaftigkeit“. In den ersten Jahren nach der Machtergreifung demonstrierte Hitler gerne Volksnähe - am liebsten in seinem idyllischen Refugium auf dem Obersalzberg. Fotobände und Sammelbilder zeigten den Führer „privat“ in Hochglanz. In seiner rustikalen Wohnstube zeigte sich an der Stelle des sonst üblichen Herrgottswinkels ein ganz unheiliger Moriskentänzer - eine Kopie des Münchner „Zauberers“ (Figur mit der Löwenmütze). [Link zu ST 1.9 „Löwenmütze“]

Die Morisken waren rehabilitiert - doch ihr altes Publikum war abhanden gekommen. Reiche und Mächtige aus Geschäft und Politik trafen sich längst anderswo. Neue Bewunderer traten an ihre Stelle: Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten Künstler und kunstbeflissene Münchner Bürger die skurrilen Bildwerke zu Vorbildern heimatverbundener Kunst und gemütvoller Lebensart erkoren. Im Boom der Reichsgründung stellte die neue städtische Elite ihren Erfolg und Anspruch gerne im häuslichen Salon zur Schau. Besonders beliebt waren Einrichtungen im Stil der Gotik und der Renaissance. Rustikale Balkendecken, Eichenschränke und altdeutsche Dekoration galten als Ausweis des gehobenen Geschmacks. Der Bedarf an kultivierter Gebrauchskunst war groß - er wurde gedeckt vom aufblühenden Kunsthandwerk und der neuen Industrie. Tonangebende Kulturschaffende der Münchner Kunsthandwerkbewegung machten den neuen Geschmack gesellschaftsfähig. Bald tanzten zahllose Morisken aus Gips, Holz oder Metall in bürgerlichen Wohnzimmer, Gaststätten und Vereinslokalen. [Abb.: Georg Hirth (UK 58), Hofbräuhaus (UK 59), Gewerbeausstellung (UK 60)]

Nach Schwanthalers Tod gelangten seine Morisken zum Grafen Pallavicini im oberbayerischen Schloss Brannenburg. Verhandlungen des Magistrats über einen Rückkauf scheiterten 1861. Wenig später mussten die Tänzer ihre bayerische Heimat verlassen und verbrachten lange Jahre im italienischen Exil in einer Villa bei Cremona. Auch die zurückgebliebenen Figuren gerieten in Gefahr: Die Stadt leistete sich einen neugotischen Rathausbau, der von 1867 bis 1874 am Marienplatz entstand. Dem alten Rathaus drohte der Abriss. Münchner Künstler und andere Denkmalpflege-Pioniere protestierten und setzten Erhalt und Renovierung des gotischen Bauerbes durch. Von 1883 bis 1889 verschwand aller neu-mittelalterlicher Dekor darin und die Moriskentänzer erhielten neuen Glanz. Die aufstrebende Isarmetropole hatte die Morisken als Wahrzeichen früherer Pracht wiederentdeckt. Umso mehr sehnte die Münchner Bürgerschaft die Rückkehr der fehlenden Kunstwerke herbei. 1887 war es endlich soweit: Für 8.000 Mark in Gold löste Konservator Franz von Seitz die vier „abhanden gekommenen Herren“ in Italien aus und vereinigte die Tänzer im heimatlichen Rathaussaal.

Das alte Reich war untergegangen, Deutschland von napoleonischer Besatzung befreit. Auch in Bayern schwärmten Intellektuelle und Künstler für das Mittelalter als Vorbild neuer nationaler Größe. Als der altehrwürdige Münchner Rathaussaal 1836 renoviert werden sollte, schenkte der gefeierte Münchner Bildhauer Ludwig Schwanthaler dem Magistrat eine glanzvolle „patriotische Ausschmückung“. Acht seiner monumentalen Wittelsbacher-Standbilder erhielten Ehrenplätze vor neugotischen Tapeten. Doch einige Morisken standen den neuen Fürsten im Weg. Der Magistrat löste das Problem im Jahr 1842 auf folgenschwere Weise, indem er dem Spender vier originale Tanzfiguren überließ. Der vom Mittelalter begeisterte Künstlerfürst erfreute sich daran bis zu seinem Tod 1849 in seiner Neubau-Burg Schwaneck bei Pullach. Indes - die Begeisterung des Magistrats über das Tauschgeschäft währte nicht lange. Zur 700-Jahrfeier Münchens im Jahr 1858 wurden die vier verlorenen Tänzer bereits wieder schmerzlich vermisst.

Das neue Interesse an den bemerkenswerten Tanzfiguren beschränkte sich nicht allein auf ihren künstlerischen Rang. Es war besonders ihre zupackendende und zugleich kultivierte Komik, die sie im 19. Jahrhundert zu Lieblingen von bayerischen Historikern und Künstlern aufsteigen ließen. Der Münchner Bildhauer Ludwig Schwanthaler schätzte sicher die herausragende Qualität der spätgotischen Skulpturen. Noch mehr angetan schien er aber von ihrem Ausdruck „altbayerischer Fröhlichkeit“ zu sein. Und das Bayerische Nationalmuseum präsentierte seit den 60er Jahren Gipsabgüsse der Morisken schlicht als „komische Figuren“. Auch als das Geheimnis um die „Maruskatänzer“ endlich gelüftet war: Für ihre Fans blieben sie ein „Prachtstück deutschen Humors“. Ihre komische Qualität sicherte den ungewöhnlichen Holzskulpturen ihre ungeheure Popularität - bis in die heutige Zeit.

 

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