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Dritter Raum

Was wäre eine Tanzdarbietung ohne ein Publikum? Manchmal betrachten Höflinge oder Bürger das Spektakel durch ein Fenster oder von der Galerie herab. Scheinbar in sicherer Entfernung, doch auch sie sind in Gefahr, jederzeit von der Sünde ergriffen zu werden. [2 Abb.: Meckenem 1460, JMM 39 und HL 1520, JMM 43] Rätselhaft sind die allegorischen Darstellungen des Moriskentanzes. Hier agieren die Figuren im symbolischen Raum, eingeschlossen oft in dorniges Gestrüpp. Und doch findet der Tanz vor Zuschauern statt: Es sind die Betrachter des Kunstwerkes, die ihre eigene Standfestigkeit zu prüfen haben. Sind die Morisken aus dem Münchner Rathaus Allegorie oder Erzählung? Vielleicht könnten die angeblich fehlenden sechs Figuren darüber Aufschluss geben, von denen das Stadtkammerbuch berichtet. Ohne sie bleiben es zehn rätselhafte Tänzer.

„Frau Welt“ erscheint im Moriskentanz [Abb. H.S.v.Kulmbach, JMM 42] als Hofdame oder bürgerliche Schönheit, die sich kokett im Spiegel betrachtet - Symbol für „Superbia“, die schlimmste aller Todsünden. Oder sie hält als Königin den Apfel als Preis bereit: Eine Warnung an den Hochmut der Herrschenden? [Abb. Goldenes Dachl, JMM 49] Stets sorgt ein Spielmann für die passende Musik. Mit Pfeifenklang und Trommelschlag treibt er die Tänzer an. Manchmal gesellen sich noch Hunde oder Affen dazu, Verkörperungen unkeuscher Triebhaftigkeit und Regellosigkeit. [Abb. Goldenes Dachl, JMM 57] Der Narr kann in viele Rollen schlüpfen: Tänzer, Komödiant, Kommentator. Häufig mischt er sich unter die Wetttänzer und parodiert ihre Posen. Manchmal scheint er den Siegespreis zu empfangen. Oder er sitzt als Gast in der Königsloge und kommentiert das Geschehen. [Abb. Holzschnitt HL, JMM 43].

Moriskentänze sind höchst profanen Ereignisse, Vertreter der Kirche mieden das Spektakel. Doch bei allem sinnlichen Vergnügen, stets bleibt auch die christliche Moral präsent. Wer wie die anmaßenden Gestalten die gottgewollte Ordnung stört, der hat sein Seelenheil verspielt. In der Regel tritt ein festes Personal auf. Im Zentrum eine schöne Preisrichterin, von Männern mit derb-obszönen Gebärden umtanzt. Wer sich am kraftvollsten verrenkt, dem schenkt sie als Preis höchste irdische Freuden - symbolisiert durch einen Apfel oder einen Ring. Es ist „Frau Welt“ - die verlockende Versuchung, die den Menschen ins Verderben führt. Der Apfel steht für die Todsünde. In manchen Darstellungen nehmen Dornen die unvermeidliche Bestrafung im Jenseits vorweg. [Abb. JMM 39: Israel von Meckenem, um 1460].

In der Feudalgesellschaft sind die Stände klar getrennt. Hochmut ist Sünde, Auflehnung wird streng bestraft. Doch es gibt Ventile, die kontrollierte Abweichungen zulassen. Narren dürfen den Mächtigen den Zerrspiegel vorhalten. Und zur Fassnacht erscheint die Welt verkehrt. Zu Füßen der Moriskentänzer tummeln sich manchmal Hunde und Affen [Abb. Goldenes Dachl], möglicherweise Symbole für verbotene Triebhaftigkeit und Ordnungsverstöße. Und am Ende trägt der größte Narr den Preis davon - aus der Hand der schönen Preisrichterin [Abb. Meckenem 1460 und HL 1520]. Die Morisken als tanzende Narren? Vieles spricht dafür [Abb. E. Schön 1542]. Aber am Ende des Mittelalters treten die Morisken nicht mehr allein für Könige und Fürsten auf. Jetzt beansprucht auch die neue Bürgerschaft dieses Privilieg für sich.

Ob „morris dance“ in England oder „maruschka tanntz“ im Münchner Rathaus: In Europa grassierte im 15. Und 16. Jahrhundert eine Moriskentanzwut. Moriskentänze gehörten zu den Höhepunkten festlicher Gesellschaften und Fastnachtsfeiern. Allein für Nürnberg sind zwischen 1479 und 1496 vier Aufführungen dokumentiert. Die Tänzer, sogenannte „Springer“, wurden für solche Anlässe aus dem „fahrenden Volk“ angeworben. Professionelle Künstler also, aber Außenseiter der Standesgesellschaft. Doch im Moriskentanz herrscht Narrenfreiheit. Nur wenig ist bildlich und literarisch überliefert. Doch soviel ist sicher: Dies war kein gewöhnlicher Tanz, eher ein sinnlicher Rausch. Flöte und Einhandtrommel, Rasseln und Schellen produzieren eine treibende Musikkulisse. Im scharfen Dreierrhythmus tanzen herausgeputzte Gestalten aufreizend um eine schöne Frau herum, wild springen und stampfen sie umher.

Angenehmes Leben oder hemmungslose Genusssucht? Arabische Hochkultur wurde in Europa ebenso bewundert wie verteufelt. Der Orient war in Mode. Am spanischen Hof in Neapel umgab sich der König von Aragon mit einem bunten Völkergemisch aus Juden, Arabern, Afrikanern, Türken und Griechen. Reisende, Kaufleute und Kreuzritter brachten fremde Gewänder, Musikinstrumente und Tänze mit in ihre Heimat. Gaukler und Spielleute verbreiteten einen aufregend fremdartigen Kulturmix. Fürsten, Bürger und niederes Volk waren fasziniert von Kunststücken, Tänzen und treibenden Rhythmen. Woher stammte der Moriskentanz? Am Anfang standen wohl Tanzspiele aus dem maurischen Spanien und kriegerisch-ekstatische Tänze aus Arabien. Am tonangebenden Hof des Herzogs von Burgunds entwickelte sich daraus im 15. Jahrhundert der abendländische Moriskentanz.

Der Kaiser war oberster Lehnsherr. Deshalb größer als alle übrigen Wappen: der Doppeladler mit Rautenschild, das Abzeichen Ludwigs des Bayern. [Abb. JMM 73] Er war der erste Wittelsbacher auf dem Kaiserthron. Das Kaisertum als bayerischer Herzogtraum? Ein Stockwerk unter dem hölzernen Himmel: Ein Fries mit 99 Wappenschilden, teils real und teils phantatstisch. Das Heilige Römische Reich umfasst die ganze Welt. Dazwischen tanzen die Morisken. [Abb. JMM 75] Es ist ein Rätselspiel. Sonne und Mond, Herzöge und Kaiser, Land und Reich, Bürger und Morisken. Noch regiert das alte Reich. Doch die Zeichen deuten in die neue Zeit: Territorien und Städte greifen nach den Sternen.

Nichts geringeres als der universelle Machtanspruch des regierenden Landesherrn Wilhelm IV. ist da über das weite Tonnengewölbe des Tanzsaals ausgebreitet. Raute, Doppeladler und gleich zweimal das Mönchswappen. Gemeinsam mit Landesherr und Bayernkaiser teilt sich die Bürgerstadt den Himmel. Sonne, Mond und Sterne leuchten über den prächtigen Wappenschilden. [Abb. JMM 69 und 70] Die staatliche Ordnung ist gottgewollt. Doch das mittelalterliche Feudalwesen war schon ein Auslaufmodell - stolze Herrscher regierten moderne Staaten. Wappen und Stammbäume waren in Mode, Ritterspiele ein beliebter Zeitvertreib. Die Wittelsbacher strebten zu europäischer Macht. Gonzaga aus Mantua und Visconti aus Mailand [Abb. JMM 64] - die Wappen der illustren Verwandtschaft blühen als Statussymbole im Rankwerk des Gewölbes.

Wild tanzen und springen sie umher: über den Morisken das Firmament, unter ihnen irdisches Treiben. [Abb. JMM 71] Mit Sonne, Mond und Sternen symbolisiert das weite Holzgewölbe die Himmelsphäre. In seinem Zentrum die Wappen von Kaiser, Fürsten und der Stadt München. Zwischen den Tanzfiguren weitere Adelswappen in langer Reihe. [Abb. JMM 75] Wie konnten sich nur die anmaßenden Narren mitten unter die edlen Geschlechter und himmlische Gestirne mischen? Haben sich die bürgerlichen Hausherren etwa einen derben Scherz erlaubt, zur Belustigung ihrer Gäste oder gar auf Kosten ihrer adeligen „Untermieter“? Es öffnet sich die Bühne für das große Welttheater der frühen Neuzeit. Die Morisken spielen nur die ihnen zugewiesene Rolle. Im lasterhaften Modegewand erinnern sie die irdischen Machthaber, selbst nicht ihr Heil und ihre Würde zu verspielen.

Stadtbürger und Landesfürst - Im Deutschland der frühen Neuzeit waren sie Verbündete und Konkurrenten. Reiche Patrizier eiferten dem Pomp der Fürsten nach - auch mit dem Moriskentanz: So leistete sich ein reicher Nürnberger Kaufmann 1479 das exklusive Spektakel. Am "Goldenen Dachl" tanzen die Morisken vor König Maximilian I., an seiner Seite ein Patrizier als Ehrengast. [2 Abb. Goldenes Dachl, JMM 47 und 57] Der spätere Kaiser bezog das Bürgerhaus, wenn er zu Besuch in seiner Lieblingsstadt war. [Ergänzen: Rolle/Bedeutung Albrecht IV.] Auch im Münchner Rathaus begegneten sich Bürger und Fürsten auf gleicher Augenhöhe. An diesem besonderen Ort, genau an der Schnittstelle dieser spannungsvollen Beziehung, stehen die Grasserschen Morisken.

 

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