Vielleicht wanderte Grasser in seiner Gesellenzeit auch nach Nördlingen und studierte den Schnitzaltar von Nikolaus Gerhaert. Ein Stilelement des Meisters des „verschränkten Stils“ hatte es ihm offenbar besonders angetan: der linke Fuß, im Winkel von 90 Grad vor das rechte Bein gestellt. Auch Bayern übte sich nun im „burgundischen Schreiten“. [Abb.: Nikolaus Gerhaert von Leiden, Kreuzigungsgruppe bzw. Figur des hl. Johannes Ev. vom Hochaltar der Nördlinger Kirche St. Georg, um 1462]Der burgundische Hof war im 15. Jahrhundert tonangebend in Etikette und Mode. Für Höflinge war der modisch gespreizte Schritt vielleicht nur ein Trend. Neuerungsfreudigen Künstler wie Erasmus Grasser bot die körperliche Verschränkung ungeahnte Möglichkeiten: Aus dem rechtwinkligen Schrittstand heraus schraubt sich die moderne Skulptur um ihre eigene Achse. Körper aus Holz oder Stein scheinen jetzt plötzlich zu leben. Unter Gewandfalten spannen sich Muskeln und Glieder.Die neuen Abbilder von Heiligen, Fürsten oder Bürgerlichen besitzen unerhörte Präsenz. Dies entspricht dem gewandelten Zugang ihres Publikums zu weltlicher und geistiger Realität. Unabhängig vom Grad seiner Bildung schätzte es die neue Bildrhetorik. Ob zu Andacht, Repräsentation oder Unterhaltung: Das Kunstwerk sollte ebenso geistig erfassbar wie emotional erfahrbar sein.
Erasmus - am Sa, 04. Dezember 2004, 17:22 - Rubrik: Zweiter Raum